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Fragmentierung

 

 

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Mit dem Begriff der Fragmentierung lassen sich sowohl die Sicht auf die Welt, wie sie die Fotografie produziert, als auch moderne Konzeptionen des Subjektes beschreiben. Jede Fotografie hält einen Ausschnitt der raumzeitlichen Realität fest. In den modernen Industriegesellschaften sind die Menschen von Massen dieser Fragmente abgebildeter Wirklichkeit umgeben, und deren Summe konstituiert eine bestimmte gewissermaßen "fotografische" Sicht der Welt, deren getreues Abbild die einzelnen Fotografien vermeintlich darstellen.

Bedeutung wird in der Fotografie, einem Medium, dem eine elaborierten universalen Semantik fehlt, primär über das Prinzip der Identifikation gestiftet. Nach diesem Prinzip stellt sich auch der Zusammenhang zwischen einzelnen Fotografien her, der damit naturgemäß nur äußerlich bleiben kann. Die Beziehung zwischen Fotografien ist somit eine nicht kausale. Zwar können Fotos einen kausalen Zusammenhang illustrieren oder in der Interpretation ein solcher zwischen ihnen aufgedeckt werden, die Fotografie hat jedoch keine Mittel eine derartige Relation zwischen einzelnen Fotos direkt darzustellen. Die "fotografische Weltsicht" ist daher nicht rational.

Moderne Subjektkonzeptionen beschreiben die Struktur des Individuums als fragmentiert. Die unterschiedlichen Rollen, die das Individuum einnimmt, die unterschiedlichen Lebensabschnitte, die verschiedenen Erfahrungsweisen zeigen Aspekte einer Person, die nicht mehr in einem rationalen Zusammenhang persönlicher Identität integriert werden können. Dennoch gibt es Einheitsmomente das Feld der Subjektivität scheint seine unüberwindbaren Grenzen zu besitzen. Eines dieser Einheitsmomente wird durch das Prinzip der Identifikation konstituiert. Man erkennt sich in seinen Taten der Vergangenheit oder auf alten Fotografien wieder, aber nur in dem Sinne, daß der Körper der Gegenwart sich aus dem Körper entwickelt hat, der diese Taten begangen hat oder der auf den Fotos abgebildet ist. Ein innerer, emotionaler Zusammenhang zwischen der Person der Vergangenheit und der gegenwärtigen kann jedoch nicht hergestellt werden.

Fotografische Weltsicht und die Struktur moderner Subjektkonzeptionen entsprechen einander und an Hervé Guiberts Werk konnte gezeigt werden, wie Fotografie auch unter dem Aspekt der Fragmentierung des Subjektes als Mittel der Autobiographie eingesetzt wird. Die einzelnen Kapitel in den literarischen Werken Guiberts sind nach dem Vorbild der Momentaufnahme gestattet und verbinden sich nur durch das Prinzip der Identifikation. Ebenso wird über dieses Prinzip die Verbindung der einzelnen Werke zur Autobiographie hergestellt. Als Identifikationsmomente dienen dabei der Autorenname, die wiederkehrenden Merkmale des Protagonisten Hervé Guibert sowie die wiederkehrenden Personen und Orte. Diese Identifikationsmomente bergen die Gefahr, daß aus dem entstehenden Selbstbild der Rezipient wieder eine identische Person Guibert konstruiert, weshalb der Autor in seinem letzten Werk die Identifikationsmomente zerstört.

Obwohl dem Werk Nan Goldins eine andere Subjektkonzeption zugrunde liegt, stellt in gewisser Hinsicht auch ihre fotografische Selbstdarstellung nicht die Identität des Subjektes dar. Bereits ihr fotografisches Konzept schließt eine Darstellung der rationalen Einheit des Subjektes aus obwohl andere Formen denkbar sind, die die Einheit des Subjektes symbolisieren. Aussagen, daß die Fotografie der "Wiedererschaffung der Person" dient oder daß sie vollständig in der Gegenwart lebt und daher die Fotografie als Speicher ihrer Erinnerungen braucht, sprechen dafür, daß auch Goldin die Erfahrung der Fragmentierung des Subjektes kennt und diese demzufolge auch in ihrem Werk zum Ausdruck kommt.

Der Topos der Authentizität, wie die Wendung, sie hätte nach dem Verlassen des Elternhauses sich wiedererschaffen, zeigen, daß Goldin von einem wahren Ich ausgeht und alle diesem widersprechenden Erfahrungen als Abweichungen von dem einem authentischen Selbst betrachtet. Legt man die Betonung weniger auf dieses wahre Selbst als Goldin, so findet auch in ihrem Werk mittels der Fotografie die Erfahrung der Fragmentierung des Subjektes Ausdruck. Ihre Subjektkonzeption wie das Motiv der Authentizität wären dabei als die Einheitsmomente, welche die Fragmente verbinden, zu betrachten.

Daß sich im Laufe der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft die Konzeptionen des Subjektes von der Betonung seiner Identität zur der seiner Fragmentierung verschoben haben, begründet sich durch die Veränderungen der Lebensbedingungen insgesamt. Welchen Anteil daran die audio-visuellen Medien und die Fotografie insbesondere haben, kann im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nicht allgemeingültig geklärt werden. Im Einzelfall Hervé Guibert muß jedoch davon ausgegangen werden, daß sein intensiver Gebrauch des Mediums Fotografie auch seine Selbstwahrnehmung beeinflußt hat.

Die Strukturähnlichkeit zwischen fotografischer Weltsicht und fragmentierten Subjekt wirft die Frage nach den Möglichkeiten einer visuellen Autobiographie auf. Dem sollte die Untersuchung von Nan Goldins Werk dienen, die als Ergebnis eine weitergehende Frage zeitigte: Die Frage nach der Veränderung im Begriff der Autobiographie durch die visuellen Medien.

 

 



©1999 Bernd Neugebauer

 

 

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