Bernd Neugebauer: Referat zu Alan Turing: "Kann eine Maschine denken?"

Abschnitt 3

Turings Vermutung und die Manchester-Maschine

Wie erwähnt ist der Text von Turing unter der Prämisse verfaßt, daß die Frage nach der Möglichkeit im Turing-Test erfolgreicher Maschinen und somit gemäß seinen Annahmen auch die Frage nach der Möglichkeit denkender Maschinen positiv beantwortet werden kann. Um Turings Antwort, die er in Form einer kühnen Prognose gibt, knapp 50 Jahre nach dem Erscheinen des Textes kritisch würdigen zu können, müssen die Erfahrungen die der Autor von Computing Machinery and Intelligence mit den frühen Computern gemacht hat, berücksichtigt werden.

Turing erwähnt im Text die Manchester-Machine, an deren Programmierung er mitgearbeitet hat. Dieser Computer hatte eine Speicherkapazität von ca. 22Kbyte (174 380 Bits) und nahm dabei einen ganzen Raum ein. Zum Vergleich: Dieser Text wird auf einem Computer mit einer (Festplatten-)Speicherkapazität von ca. 3 Millionen KByte, also rund dem 140.000fachen der Manchester-Maschine, geschrieben.14
Turings Vermutung lautet nun:

"Meiner Meinung wird es in ca. 50 Jahren möglich sein, Rechenmaschinen mit einer Speicherkapizität von der Größe 109 [das entspricht ca. 120 MB, B.N.] zu programmieren, die das Imitationsspiel so vollendet spielen, daß die Chancen nach einer fünfminütigen Fragezeit die richtige Identifizierung herauszufinden für einen durchschnittlichen Fragesteller nicht höher als sieben zu zehn stehen. Die ursprüngliche Frage ,Können Maschinen denken?` halte ich für zu belanglos, als daß sie ernsthaft diskutiert werden sollte. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß am Ende unseres Jahrhunderts der Sprachgebrauch und die allgemeine Ansicht sich so stark gewandelt haben werden, daß man widerspruchslos von denkenden Maschinen reden kann."15

An dieser Äußerung verwundert zunächst, daß die ursprüngliche Frage von der noch einen Absatz zuvor behauptet wurde, man könne sie "nicht gänzlich fallen lassen"16 nun plötzlich als belanglos gilt. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß es Turing im Text zum einen nur um seine Vermutung geht, zum anderen er implizit von der Äquivalenz von Ausgangsfrage und Turing-Test ausgeht, was sich besonders in der Diskussion verschiedener Einwände gegen seine Hypothese zeigt. Ein Teil der Gegenpositionen stellen nur Einsprüche gegen die Ansicht "Maschinen können denken" dar, und verlieren, wenn man sie gegen die in der Vermutung geäußerte Möglichkeit der Konstruktion im Turing-Test erfolgreicher Digitalrechner ins Feld führte, jeglichen Sinn.

Einwände

Da Turing "über keine sehr überzeugenden Argumente" verfügt, um seine "Ansichten zu stützen"17, nimmt die Diskussion möglicher Bedenken gegen seine Position einen Großteil der Darstellung ein. Turing führt insgesamt 9 Einwände an, von denen 3 für eine wissenschaftliche Behandlung der Fragestellung irrelevant sind, und ein weiterer, das "Argument von der außersinnlichen Wahrnehmung" ebenfalls kaum diskutierbar ist. Abgesehen davon, daß letzterer durch ,einfache` Modifikation der Versuchsbedingungen der Fragesteller hält sich in einem ,telepathiedichten` Raum auf leicht entkräftet werden kann.18

Ein schwerwiegendes Argument gegen Turings Position stellt der "mathematische Einwand"19 dar. Aus dem Gödelschen Theorem und Turings eigenen Forschungen läßt sich zeigen, daß es für eine Maschine notwendigerweise Fragen gibt, "die sie entweder falsch oder überhaupt nicht beantwortet, wieviel Zeit man ihr auch immer läßt."20 In der Diskussion dieses Einwandes zeigt sich bereits, daß der Turing-Test und die Ausgangsfrage keineswegs äquivalent sein können. Während gelegentliche Fehler oder vollständige Ratlosigkeit vor gestellten Problemen keine Falsifikation des ,Denkens' liefern sonst müßte auch Menschen diese Fähigkeit abgesprochen werden implizieren sie die Möglichkeit einer prinzipiellen Grenze zur Erfüllung von Turings Vermutung. Der Autor weist zwar darauf hin, daß die konstruktionsbedingt nur falsch oder gar nicht zu lösenden Fragen von Maschine zu Maschine unterschiedlich sein können, dennoch kann er nicht ausschließen, daß es Fragen gibt, an der jede Maschine notwendig scheitert. Die Existenz derartiger ,Killer-Fragen` machte den Turing-Test wertlos.21

Höchst relevant für die Ausgangsfrage ist das "Bewußtseinsargument"22 , demzufolge Denken notwendig mit Bewußtsein verbunden ist. Folgt man dieser Ansicht, so ergeben sich wieder die anfänglichen Definitionsprobleme, die Turing durch Einführung des Imitationsspiels vermeiden wollte. Letztlich gibt es keinen einfachen Test für das Vorhandensein eines Bewußtseins. Sicherheit kann nur der "solipsistische Standpunkt" bieten, dem zufolge der einzige Weg das ,Denken' einer Maschine festzustellen darin besteht, "selbst die Maschine zu sein und dann zu fühlen, daß man denkt."23 Eine Argumentation, die im Kern auf René Descartes zurückgeht.24

Turing begegnet dem Bewußtseinsargument auf verschiedene Weise: Erstens mit dem Argument, daß der solipsitische Standpunkt in letzter Konsequenz intersubjektiven Diskurs als illusionär erscheinen läßt und daher als unrealistisch verworfen werden muß. Zweitens erwägt er die Möglichkeit, daß eine in seinem Sprachgebrauch ,denkende` Maschine, indem sie ihre Antworten auf Nachfragen begründet, einen Nachweises des ,Verstehens` als Indiz für Bewußtsein liefern kann. Drittens, indem er eine Klärung des Bewußtseins für die in dem Text diskutierten Fragen für unwichtig erklärt. Dieses Verfahren scheint jedoch zumindest in Bezug auf die Ausgangsfrage ein wenig leichtfertig, da wie erwähnt das Bewußtseinsargument die Probleme der Gleichwertigkeit von Turing-Test und der Frage "Kann eine Maschine denken" wieder aufwirft.

Wesentlich leichter als das Bewußtseinsargument kann Turing den "Einwand der Lady Lovelace"25 entkräften. Besagte Dame soll über die (mechanische) analytische Maschine von Charles Babbage geäußert haben: "die Analytische Maschine erhebt keinen Anspruch irgend etwas zu erzeugen . Sie kann all das tun, wofür wir die entsprechenden Durchführungsbefehle geben können ."26 Eine Aussage, die nach Turing auch als eine Maschine könne "nie etwas wirklich Neues ausführen", bzw. nie "überraschen"27 formuliert werden kann. Die ursprüngliche Formulierung kann leicht durch das Konzept der "lernenden Maschinen", das Turing später erläutert, widerlegt werden (siehe unten). Die beiden anderen Varianten des Arguments kontert er mit den Hinweisen, daß schöpferische Arbeit vielleicht ,nur` aus der Kombination von bereits Bekanntem besteht28 womit allerdings noch nichts über die Fähigkeit von Maschinen genau diese Kombination zu leisten gesagt ist und dem Verweis darauf, daß selbst die Manchester-Maschine ihn immer wieder überrasche. Letzteres ist Resultat der selbst bei kleinen Programmen hohen Komplexität der Vorgänge, was auf dem schon oben erwähnten Unterschied zwischen prinzipieller Vorausberechenbarkeit und tatsächlichen Vorhersagbarkeit der von Digitalrechnern produzierten Ergebnisse beruht.

Das "Argument von der Stetigkeit innerhalb des Nervensystems"29 meint Turing ähnlich leicht wie den Einwand von Lady Lovelace entkräften zu können. Sicher funktioniert das menschliche Nervensystems nicht wie ein Digitalrechner mit diskreten Zuständen, sondern stetig (also gewissermaßen mit fließenden Übergängen zwischen verschiedenen Zuständen). Ein Digitalrechner kann aber, wenn auch mit einem anderem Verfahren, ebenso zu den richtigen Lösungen für gewisse Probleme kommen, wie ein analoger Rechner. Das Argument Turings läßt sich mit dem Unterschied von Schallplatte und CompactDisc illustrieren: Obwohl auf der CD die Töne als diskrete Zahlenwerte gespeichert sind, werden die gleichen Töne wiedergegeben wie von der Schallplatte. (HiFi-Freaks, die meinen, sie könnten sogar das im Lautsprecherkabel verwendete Metall ,hören`, werden dem allerdings widersprechen) Turings ,Widerlegung` scheint aber zu voreilig: Ob wirklich alle Aspekte des Denkprozesses durch diskrete oder in neuerer Terminologie: digitale Verfahren nachgebildet werden können, ist keineswegs sicher. Dieser Punkt wird später noch ausführlicher diskutiert.

"Es ist unmöglich, Regeln aufzustellen, die festlegen, was ein Mensch in jeder denkbaren Situation tun sollte."30 So lautet die Grundlage des achten Einwandes. Daraus kann abgeleitet werden, daß Menschen keine Maschinen sein können, weil man letzteren unterstellt, daß sie nur nach derartigen Regeln funktionieren. Womit von Turing nicht eigens erwähnt impliziert wird, ,denkende` Maschinen sein unmöglich, weil der nicht regelgeleitete Teil menschlichen Denkens von ihnen nicht nachgeahmt werden kann. Turing zeigt aber, daß hier ein Fehlschluß vorliegt. Regeln sind nicht Verhaltensgesetzmäßkeiten, die gleichermaßen naturgesetzhaft das Handeln steuern. Insofern nicht bestimmt werden kann, ob Menschen nicht doch vollständig von derartigen Gesetzen determiniert werden, wird der Rückschluß auf das ,nicht-maschinenhafte' humanoider Lebensformen unmöglich. Zudem zeigt das bereits mehrfach vom Autor benutzte Komplexitätsargument, daß selbst einfache Programme also vollständig von festen Gesetzmäßigkeiten bestimmte Maschinen zu unvorhersagbaren Ergebnissen führen. Schon deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch das (nicht prognostizierbare) menschliche Verhalten von solchen Gesetzen determiniert wird. Solange dieser Aspekt aber offen bleibt, kann aus ihm auch kein Argument für das notwendige Scheitern denkender Maschinen gewonnen werden. Die an diesem Einwand dargestellten Aspekte finden sich auch in Turings Diskussion ,lernender Maschinen' wieder.

Turing-Startseite

zurück | weiter

©1997 Bernd Neugebauer