Bernd Neugebauer: Referat zu Alan Turing: "Kann eine Maschine denken?"

Abschnitt 4

Turings stärkstes Argument: Lernende Maschinen

Aus dem letztgenannten Einwand kann ein Argument abgeleitet werden, das Turings Prognose hinfällig macht: Selbst wenn das Denken vollständig durch Regeln bestimmt wäre, könnte sich die Programmierung dieser Regeln und des notwendigen Wissens als zu zeitintensiv und komplex erweisen, um praktisch durchführbar zu sein.31 Für dieses Problem bietet Turing eine Lösung an, die gleichermaßen den Einwand der Lady Lovelace erledigt und die als stärkstes Argument für die Möglichkeit im Imitationsspiel erfolgreicher Maschinen gewertet werden kann.

Damit Maschinen etwas Neues erzeugen können, müssen sie in die Lage versetzt werden, ihre Programmierung selbständig zu modifizieren sie müssen gewissermaßen ,lernfähig` sein. Dies führt scheinbar zu dem Paradoxon: "Wie können sich die Operationsregeln der Maschine ändern?"32 Das Paradox läßt sich jedoch leicht auflösen: Nicht die grundlegenden Verhaltensgesetzmäßigkeiten sollen verändert werden, sondern nur "Regeln, die ziemlich anspruchslos und von vorübergehender Gültigkeit sind."33, 34 Lernende Maschinen sind also möglich35 und bereits Turing hat mit derartigen Programmen experimentiert.36, 37

Da er mit seinem Text auch mögliche Richtungen künftiger Forschung aufzeigen will, schlägt der Autor eine bestimmte Vorgehensweise für lernende Maschinen vor. Laut Turing müssen zur Nachahmung des Verstandes eines Erwachsenen folgende drei Komponenten von dem Programm imitiert werden:

"a) der Anfangszustand Verstandes, etwa bei der Geburt,

b) die Erziehung, die ihm zuteil wurde,

c) andere Erfahrungen, die er gemacht hat und die nicht als Erziehung beschrieben werden können."38

Das Programmierungsproblem wird demzufolge in die beiden Unterprobleme "Kind-Programm" und "Erziehungsprozeß"39 unterteilt. Zur Erzeugung des Kind-Programmes schlägt Turing vor, einen ursprünglichen Entwurf zufällig zu ,mutieren` und auf diese Weise weiter zu entwickeln: Wobei der Experimentator, der ,digitalen Evolution`40 schon eine erfolgversprechende Richtung verleihen kann, indem besonders lernfähige Kind-Programme unter verschiedenen "Mutationen" ausgewählt.41 Der folgende Erziehungsprozeß sollte zum einen mittels von Bestrafungen und Belohnungen die Wahrscheinlichkeit richtiger Ergebnisse erhöhen, zum anderen Regeln des Lernens vermitteln, die diesen Prozeß abkürzen. Zum Beispiel: "Alles, was der Lehrer sagt ist wahr."42 Von besonderer Bedeutung für den späteren ,Erfolg` der Maschine sind dabei alle Regeln und Befehle, die Auswahl von Art und Reihenfolge der Aktionen betreffen. In deren effizienter Anwendung zeigt sich erst die ,wirkliche` Intelligenz.

47 Jahre später
ELIZA oder "Alle Menschen sind umsonst geboren."

Zur Jahrtausendwende sollten nach Alan Turings Vermutung Digitalrechner in der Lage sein, den Turing-Test erfolgreich zu meistern und im allgemeinen Sprachgebrauch widerspruchslos von denkenden Maschinen die Rede sein. 47 Jahre nach Erscheinen seines Artikels müßte somit eine vorläufige Überprüfung seiner Prognose erlaubt sein. Was die Leistungen der Hardware angeht, so wurde Turings Voraussagen noch weit übertroffen: Der PowerMac, an dem dieser Text entsteht, hat nahezu die 25-fache Speicherkapazität, die Turing für nötig und nach fünf Jahrzehnten weiterer Entwicklung auch für verfügbar hielt. Die Arbeitsgeschwindigkeit, die Turing für nicht so entscheidend bei der Frage künstlicher Intelligenz erachtete,43 ist mindestens um den Faktor 104 höher als die der Manchester-Maschine. Nur: sollte dieser Computer zu Etwas wie Denken fähig sein, so hat er das bisher erfolgreich verborgen.

Das ist die einfache Sichtweise auf die Vermutung Turings und deren Kern das Scheitern der Erwartungen einer KI, die diesen Namen verdient ist sicher unbestreitbar.44 Differenzierte Betrachtung erlaubt jedoch kein so simples Urteil. KI-Forschung ist immer eine recht esoterische Disziplin der Softwareentwicklung geblieben, mit Programmen zur Erleichterung alltäglicher Arbeitsabläufe läßt sich ungleich mehr Geld verdienen, als mit der Erschaffung eines mehr oder minder amüsanten digitalen Gesprächspartners.45

Trotzdem kann die Künstliche Intelligenz einige Erfolge verbuchen: Da wäre als erstes ELIZA zu nennen, ein Mitte der sechziger Jahre entwickeltes Computerprogramm, das einen Psychotherapeuten simuliert, indem es die letzte Aussage des ,Patienten' in eine Frage umformuliert und ihn so zum Weiterreden bewegt. Das Programm ist relativ einfach, die Wirkungen sind jedoch verblüffend: "Er [ELIZAs Schöpfer Joseph Weizenbaum, B.N.] war entsetzt, als viele sein Programm mit Begeisterung aufnahmen und den Tag voraussagten, da ein Komputer in der Lage sein würde, Hunderte von Patienten gleichzeitig ,psychotherapeutisch` zu behandeln."46 Offensichtlich kann bei der Wahl geeigneter Umstände leicht der Eindruck, Computer ,dächten` entstehen. Und nicht alleine ELIZA erfüllt (reduzierte) phänomenologische Kriterien für Intelligente Maschinen. Inzwischen wird jährlich der Loebner Preis -Wettbewerb47 ausgetragen, bei dem verschiedene Programme ihre Fähigkeiten im Turing-Test unter Beweis stellen. Alleine daß dieser Wettbewerb nicht völlig sinnlos ist, zeigt, daß schon einige Fortschritte bei der Realisierung von Turings Prognose erzielt wurden.

KI findet in sogenannten Expertensystemen Anwendung. Das sind Programme, die versuchen ähnlich der Schlußweisen menschlicher Experten in bestimmten, engumrissenen Themenkomplexen Analysen und Diagnosen durchzuführen. So gibt es z.B. Experimente mit medizinischer Software, die aus einigen Symptomen Krankheitsbefunde erstellen kann.

Aber die KI-Forschung hat mit Hürden zu kämpfen, die Turing gar nicht in den Sinn kamen: Mustererkennung, unabdingbar für viele Aspekte des Denkens, hat sich als ungemein schwierig erwiesen. Zwar haben Sprach- und Handschrifterkennung, d.h. die Übersetzung vom gesprochenen oder geschriebenen Text in einzelne Zeichen, erste Verbreitung gefunden,48 an der visuellen Mustererkennung einer für den Menschen einfachsten Angelegenheiten überhaupt finden die Fähigkeiten der Informatiker ihre Grenze. Nur unter idealisiertesten Bedingungen kann ein so einfaches Objekt wie ein Würfel richtig erkannt werden. Vielleicht ist dem Problem mit den bekannten mathematischen Methoden überhaupt nicht beizukommen.

Um im Turing-Test nicht allzu schnell erkannt zu werden, muß die beteiligte Maschine irgendeinen Ersatz für die Fähigkeit des Verstehens eines Textes haben. Am Verständnis mangelt es aber der modernsten Software noch gründlich. Übersetzungsprogramme, die mit ausgeklügelten statistischen Methoden wenigstens die richtigen Alternativen aus einer Reihe möglicher Phrasen auszuwählen suchen, produzieren oft groben Unfug: Aus dem Artikel eins der UN-Menschenrechtskonvention "All human beings are born free" kann dann schon mal "Alle Menschen sind umsonst geboren"49 werden.

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©1997 Bernd Neugebauer