Bernd Neugebauer: Referat zu Alan Turing: "Kann eine Maschine denken?"

Abschnitt 5

Kritik: Denken oder Simulation desselben?

Turings Prognose von den ,denkenden Maschinen`, die am Ende dieses Jahrhunderts erfolgreich Menschen im Imitationsspiel zu täuschen vermögen, scheint sich nicht zu erfüllen. Damit wird sein für die KI-Forschung richtunggebender Text nicht wertlos, aber die Schwierigkeiten des Textes erscheinen in neuen Licht. Der Artikel hat seine Widersprüche, die als Indiz dienen können, daß der Weg zur intelligenten Maschine steiniger werden sollte, als Turing es sich vorstellte. Zumal in den vergangenen fünf Jahrzehnten sich noch Argumente fanden, warum KI ein größeres Problem als von dem englischen Mathematiker angenommen darstellt.

Das Grundproblem in der Argumentation ist sicher die unterstellte Äquivalenz der Frage "Können Maschinen denken" mit dem phänemenologischen Test. Wie oben erläutert scheint Turing sich selber in diesem Punkt nicht schlüssig zu sein, denn obwohl er die Frage eigentlich für belanglos hält, geht er sie doch immer wieder auf sie ein. Der scheinbar elegante Weg, die Definitionsprobleme von Denken und Geist durch die Einführung eines Testkriteriums zu vermeiden, ist eine Scheinlösung. Denn um die Äquivalenz behaupten zu können, müßte Turing zuvor genau die Begriffe bestimmen, deren Klärung er gerade umgehen will. Durch explizite Setzung des Imitationsspiel als Kriterium für eine denkende Maschine hätte der Text an argumentativer Stringenz sicher gewonnen, auch wenn der Reiz der ursprünglichen Frage ein wenig verloren gegangen wäre.

Erfolgreiche Teilnahme am Imitationsspiel und Denken sind sicher nicht gleichwertig: Der Turing-Test taugt lediglich als Kriterium der erfolgreichen Simulation von Denken. Während bei dem am Imitationsspiel teilnehmenden Menschen sinnvollerweise davon ausgegangen werden sollte, daß seine Gesprächsbeiträge Produkt seiner Intelligenz sind, bleibt genau dies bei dem beteiligten Computer zweifelhaft. Auch dessen Aussagen kommen nicht ohne die Beteiligung von Intelligenz zustande, ob diese aber auch als Eigenschaft des Programms zu finden oder nur in den Hirnwindungen der Programmierer lokalisiert ist, kann nicht so ohne weiteres deduziert werden. Simulation ist die Erzeugung von Zeichen für etwas, ohne daß das Bezeichnete an der Produktion seines Zeichens beteiligt ist; es muß nicht einmal existieren können.

Der bekannteste Einwand gegen die Interpretation des Turing-Tests als Zeichen maschinellen Geistes stammt von John Searle: Das chinesische Zimmer.50 Im Kern besagt es, daß wenn Searle die Algorithmen eines Turing-Tests der in Chinesisch geführt wird, ausführte, er ebenso erfolgreich (wenn auch naturgemäß langsamer) wie eine gleichermaßen programmierte Maschine in der Imitation des Menschen wäre. Da er der chinesischen Sprache nicht mächtig ist, er somit vom Gesprächsinhalt mit Sicherheit nichts verstünde, ist bewiesen, daß die Simulation der denkenden Maschine kein Denken benötigt. Dieses würde ein Verständnis für die Inhalte ja voraussetzen.

So bestechend Searles Argument ist, kann es wiederum auch kritisiert werden. Möglicherweise stellt die erfolgreiche Simulation des Denkens ja wiederum eine eigenständige Form des Denkens dar der Definitionsproblematik des Denkens ist im KI-Diskurs nicht leicht zu entkommen.

Neben dem Äquivalenzproblem als gravierendsten Mangel von Turings Text, ergeben sich aber noch weitere Einwände gegen die Möglichkeit denkender Maschinen. Ein Teil davon resultiert aus Turings impliziter Prämisse, auf Digitalrechnern könnten alle für das Denken entscheidende Vorgänge simuliert werden. Das ist aber keineswegs ausgemacht. Seine Versuch, die Trugschlüsse des mathematischen Einwands und des Einwandes von der Stetigkeit des Nervensystems aufzuzeigen, zielen zwar darauf ab, diese Prämisse zu plausibilisieren, sind aber zu pauschal, um definitive Aussagen zu erlauben.

Es ist fraglich, ob sich alle für das menschliche Denken relevanten Vorgänge in Algorithmen für Digitalrechner übersetzen lassen. Mögliche Hürden für dieses Vorhaben sind zahlreich: Vielleicht spielen Zahlen, die nicht zu der Klasse der berechenbaren Zahlen gehören, beim Phänomen Geist die entscheidende Rolle. Dann wäre ein Scheitern denkender Digitalrechner vorprogrammiert. Ebenso, wenn sich entscheidende Prozesse überhaupt nicht mathematisch beschreiben ließen oder eine Beschreibung niemals gefunden würde. Die Schwierigkeiten beim Erkennen von Mustern deuten darauf hin, daß die biologische Evolution Mechanismen erfunden hat, denen die Informatiker bislang noch ratlos gegenüberstehen. Im übrigen ist überhaupt nicht ausgemacht, daß die von Menschen wahrgenommene Welt sich vollständig in Zahlen fassen läßt ein großer Anteil des uns bekannten Universums könnte den Maschinen verborgen bleiben. Und dabei könnte es sich um genau den Teil handeln, in dem die Prozesse und das Wissen liegen, die aus Rechnen erst Denken machen. Sollte ein derartiger ewig weißer Fleck auf der Landkarte der Fähigkeiten von Digitalrechnern bestehen, würde der Turing-Test zur unüberwindbaren Hürde der Rechenmaschinen.

Turings Optimismus basiert auf der Anfang der 50er Jahre nicht seltenen Annahme, das menschliche Hirn sei eine biologische Rechenmaschine. Die Fortschritte der Hirnforschung konnten diese Hypothese nicht untermauern. Vielmehr werden die Rätsel um das Funktionieren des menschlichen Denkorgans mit jeder neuen Entdeckung größer. Und daher gilt:

"The problems that haunt AI today are the tasks we can't program computers to do - largely because we don't know how we do them ourselves. Our lack of understanding about the nature of human consciousness is the reason why there are so few AI researchers working on building it. What does it mean to think? Nobody knows."51

Z.B. ist die Funktionsweise des Gedächtnis komplizierter als angenommen. Offensichtlich spielen auch chemische Prozesse eine entscheidende Rolle, und es kann nicht einfach als ein elektrischer Speicher aufgebaut aus einem Netz von Synapsen betrachtet werden.52

Jahrelang völlig unbeachtet war sie Bedeutung der Emotionen für das Denken. Rationalität und Emotionen wurden als zwei völlig getrennte Sphären des menschlichen Daseins begriffen. Es spricht jedoch viel dafür, daß dem nicht so ist. Der amerikanische Philosoph Ronald de Souza hat in "The Rationality of Emotions" sehr überzeugend dargelegt, daß das Bewußtsein wahrscheinlich einer ,emotionalen Rahmung` unterliegt. Ist dies der Fall, kann die Frage nach der künstlichen Intelligenz nur geklärt werden, wenn zuvor das Problem simulierter Emotionen gelöst werden kann.53 Zwar gibt es auch in dieser Richtung bereits Forschungen,54 aber die Frage, ob maschinelle Gefühle mit menschlichen Gefühlen vergleichbar sind, ist noch wesentlich diffiziler als die Frage nach dem maschinellen Denken. Während der Turing-Test als phänomenologisches Kriterium noch dadurch zu rechtfertigen ist, daß wir sinnvollerweise annehmen sollten, unsere Mitmenschen dächten, kann ein derartiges Kriterium für Emotionen nicht gefunden werden. Oft genug ist es ratsam, zu unterstellen, eine Differenz zwischen den von Mitmenschen gezeigten Emotionen und ihren empfundenen zu unterstellen.

Ein wichtiger Einwand gegen Turing bleibt auch das Bewußtseinsargument. Ob ein erfolgreich bestandener Turing-Test gleichbedeutend mit der erfolgreichen Erschaffung maschinellen Bewußtseins ist, sowie die Frage ob Denken notwendig mit Bewußtsein verbunden ist, kann allgemeingültig nicht beantwortet werden. Es ist letztlich immer eine Frage des philosophischen Standpunktes. Die in dem Schlagertitel "Wenn Du denkst, daß du denkst, dann denkst du nur, du denkst" formulierte Erkenntnis markiert die unhintergehbare Grenze des Bewußtseinsdiskurses.

Jedoch die hier skizzierten Einwände gegen Turings Argumentation und die Möglichkeiten einer Künstlichen Intelligenz, die der menschlichen vergleichbar oder überlegen wäre, ändern nichts an den grundlegenden Provokationen des Textes. Die Annahme, jemand dächte, kann immer nur phänemenologisch formuliert werden und wenn eine Maschine dieselben Zeichen des Denkens wie Exemplare der Gattung Homo sapiens zeigen, wird es schwer, dem Rechner das Denken abzusprechen. Ob ein derartiger Computer gebaut werden kann, und ob es sich dabei um einen Digitalrechner handelt, kann nur die Zukunft zeigen. Obgleich Turings Prognose zu optimistisch war, zeigt sich 47 Jahre nach Erscheinen des Textes der Glaube an die Einzigartigkeit menschlicher Intelligenz von den Produkten dieser Intelligenz schon angekratzt. Während diese Zeile geschrieben wird, lautet der aktuelle Stand in der Revanche Deep Blue gegen Kasparov 2:2.

Sollte die KI letztlich Erfolg haben, bleibt der vom Thron gestoßenen, sich als Krone der Schöpfung verstehenden Gattung vielleicht folgender Trost: Die Konstruktion einer denkenden Maschine bedeutete gleichzeitig einen Quantensprung in der Erkenntnis über das Wesen des menschlichen Denkens, mithin einen Quantensprung im Selbstbewußtsein der Menschheit es wäre gleichsam der neuerliche Kontakt mit dem schwarzen Monolithen aus 2001. Ob eine Maschine sich ebenfalls auf dieser höheren Bewußtseinstufe befindet, könnte dann mit einem neuen Turing-Test überprüft werden: Einer Maschine müßte nur dann diese neue Stufe von Denken zugesprochen werden, wenn sie in der Lage ist, eine Maschine zu konstruieren, die ebenfalls diese neue Stufe des Denkens erreicht. Zur Überprüfung müßte allerdings auch diese Maschine, eine Maschine konstruieren, die diese Stufe des Denkens erreicht hat. So würde eine unendliche Kette von Maschinenkonstruktionen initiiert und die einzige Antwort, die Menschen in diesem Test von den Maschinen erhielten, kennen wir schon von der Telefonauskunft: Bitte Warten!

Bernd Neugebauer

 

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